Jahreswechsel sind traditionell Zeiten der Erwartung, der Hoffnung. Gute Wünsche haben Hochsaison und in Verbindung mit Rückblicken schwanken die Menschen zwischen Hoffnung und Furcht.
Das gilt derzeit mehr denn je. Da die vergangenen 70 Jahre bei uns nahezu unglaublich friedlich verlaufen sind, beunruhigt uns umso mehr die Gegenwart – genannt seien nur Klimakrise, Krieg, Inflation, Energieprobleme, Armutsmigration, Hass in der Gesellschaft.
Sollen wir uns also fürchten und die Decke über den Kopf ziehen, passiv resignieren, weil ‚man sowieso nichts ändern kann‘ wie es oft gehört und gesagt wird? Ist die Vergangenheit in Wirklichkeit schon die Zukunft – also die Wiederholung des ewig Gleichen und wenden wir uns also doch lieber gemütlich schönen Erinnerungen zu? Oder sollten wir Zukunft nicht doch eher als eine Aufgabe verstehen – vielleicht im Sinne von ‚Aufräumen der Vergangenheit‘ mit der Option und der Chance auf Veränderung, sogar auf Verbesserung?
Das ‚immer weiter so‘ klingt doch allzu sehr nach ‚lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach‘ – solch eine bescheidene Haltung wird den Herausforderungen und Problemen gewiss nicht gerecht.‚Die Zukunft ist kein Selbstgänger, sondern das, was wir aus ihr machen‘sagt Rutger Bregman, ein niederländischer Historiker. Gerade weil wir mehrfache Krisen gleichzeitig erleben, wäre es fahrlässig, sich abzuwenden und passiv zu verhalten. Die Gefahr, dadurch Probleme zu vergrößern und Gelegenheiten zu verpassen, sie zu bewältigen oder eszu mindestens zu versuchen, ist allzu groß. Möglicherweise ist ein Teil unserer gegenwärtigen Probleme genau dadurch entweder entstanden oder ungewollt so groß geworden…..
……Mein eigener Umgang mit dem Begriff Zukunft ist durchaus von Widersprüchlichkeit geprägt. Einerseits bin ich nicht damit beschäftigt, große Erwartungen an die kommende Zeit zu haben, Pläne zu machen oder mir bestimmte Ziele zu setzen. Andererseits bin ich aber auch weder ängstlich oder skeptisch, was meine Person in der Zukunft betrifft. Ich sehe diese immer nur in Verbindung mit anderen Menschen um mich herum, also mit meiner Frau, meiner und ihrer übrigen Familie, mit meiner Guttempler-Gemeinschaft, mit den Freunden, die ich dort und in anderen Bereichen der Organisation gewonnen habe. Aufgrund meiner positiven Lebenserfahrung, die ich seit dem Beginn meines nüchternen Lebens vor vierzig Jahren gewonnen habe, sehe ich dem, was kommen mag, mit Gelassenheit, aber auch mit Vorsicht entgegen.
Mit Blick auf die soziale und politische Wirklichkeit habe ich allerdings große Bedenken, dass unsere Gesellschaft den Herausforderungen gewachsen ist, denen wir uns gegenübersehen. Stefan Lessenich, Sozialforscher und Soziologe in Frankfurt, der sich mit dem Begriff und der Realität des ‚Normalen‘ in unserer Gegenwart beschäftigt, sagt: ‚Wie man es auch dreht und wendet: die Zukunft wird wirklich anders sein oder aber sie wird nicht sein‘*
*Stefan Lessenich: Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs. Hanser Verlag 2022. Seite 127
Der Göttinger Philosoph und Spötter Lichtenberg formulierte es so: ‚Man kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird. Aber so viel kann ich sagen: Es muß anders werden, wenn es gut werden soll.‘ Dieser Spruch ist über zweihundert Jahre alt.Unter diesem Aspekt gilt es wohl, nicht Szenarien für die Zukunft zu entwerfen und noch so gut gemeinte Pläne und Theorien zu entwerfen oder zu suchen, sondern der allernötigste Schritt wird sein: anzuerkennen, dass Schluss sein muss mit der Illusion, wir kämen mit den bisherigen Rezepten weiter oder könnten auch nur ansatzweise damit durchkommen. Müssen also die Krisen noch schlimmer werden?
Unter diesem Aspekt komme ich als Guttempler zu der hinlänglich bekannten Erfahrung vieler Suchtkranker: dass es erst der wirklich schlimmen Krise bedarf, ehe die Bereitschaft zur Veränderung in aktives Handeln mündet. Das Wissen um meinen Alkoholismus hatte ich schon zwei drei Jahre VOR meinem Zusammenbruch – aber ich hielt meinen Zustand für ganz normal, daher mußte er ja erst noch noch schlimmer und schlimmer werden.
Die Zukunft meiner Abstinenz war nur eine unvorstellbare Utopie.
Also kann Zukunft aus mehr bestehen als aus dem was ich mir heute vorstelle oder was ich heute wünsche und fürchte – es kann das unvorstellbar Gute oder die Hölle sein – eines ist sie mit Sicherheit nicht:ein Wunschkonzert. Dass sie aber gelingen kann, dazu kann ich heute schon ein kleines Stückchen beitragen, vielleicht sogar schon allein mit diesem Text und mit meiner Zuversicht.
Denn mir ist klar, dass ohne ein ausreichendes Maß an Vertrauen und Hoffnung die Zukunft keine Chance haben wird.
Die Summe meiner guten bisherigen Erfahrungen ist eine gute Basis dafür, dass ich darauf vertraue, die kommenden zwölf Monate als eine für mich gute Zeit erleben werde. Wenn es soweit ist, werde ich davon berichten.
Michael Annecke
8. 1. 2023
Hoffentlich wird es nicht so schlimm wie es schon ist
Karl Valentin
Bedenke, dass die Jahre vergehen und achte darauf, nicht immerfort das Gleiche zu tun Francis Bacon
„Eine Karte der Welt verdient nicht einmal einen Blick, wenn das Land Utopia auf ihr fehlt.“ Oscar Wilde
Die Sehnsucht ist die durchgehende und vor allen Dingen die einzig ehrliche Eigenschaft aller Menschen. Ernst Bloch
Das Gestern ist fort, das Morgen nicht da, leb also heute
Pythagoras von Samos
Nietzsche